WAZ: Die Zeichen eines langen Winters. Kommentar von Lars von der Gönna

Der späte Frost hat mir alles verdorben. Ich habe
schon über 100 Pflanzen verloren.“ Diese Notiz eines Hofrates, liebe,
gänzlich zu Recht über den nicht enden wollenden Winter klagende
Leser, ist uralt. Doch weniger die Tatsache, dass sie von 1793
stammt, ist der Erwähnung wert als ihr Datum: Mitte Juni! So wird all
unser Klagen relativ: über die Heizkosten, das Lichtjahre entfernte
Holzkohlegrillen und die schlappen Primeln, die wir vor zwei Wochen
in frühlingshaftem Frohlocken gesetzt haben. Kein Thema, nicht mal
der doppelte Papst, beschäftigt uns derzeit so hartnäckig wie dieser
gefühlte Dauerfrost. Warum lässt uns die Kälte nicht kalt? Weil uns
die beißenden Ostwinde die Grenzen unserer Macht um die Ohren pfeifen
lassen. Ob wir das neue Smartphone horten oder per Knopfdruck die
Garage öffnen: Wir sind nichts, weil das Wetter alles ist. Für unsere
Gefühle, die Hormone, die Gesundheit, das Glück. Und so ist die große
Kälte mit dem langen Atem vielleicht kein schönes, aber eben doch ein
Zeichen. Es steht für fast unmodische menschliche Tugenden, die wir
noch ein paar Tage brauchen: Demut und Geduld. Wir sprechen uns noch,
wenn die Hitze im Oktober wieder kein Ende nehmen will.

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