Mittelbayerische Zeitung: Buchstäblich Geschichte

Von Susanne Wiedamann

Warum „Stresstest“? Warum wird nicht ein positiv besetzter Begriff
oder etwas Heiter-Skurriles zum Wort des Jahres erklärt? Die Antwort
ist einfach: Weil wir mehr über das Unerquickliche reden als über
Positives, mehr über das, was uns stört, als das, was uns freut. Die
Gesellschaft für deutsche Sprache hebelt – Entschuldigung: hebt jene
Wörter auf ihre Rankingliste, die die öffentliche Diskussion eines
Jahres besonders bestimmt haben. 2011 also: Stresstest, gefolgt u.a.
von „Merkozy“, „guttenbergen“ und „Killersprossen“. Beim ersten
Ranking 1971 war die Kür noch nicht so politisch: „Aufmüpfig“ hieß
das Siegerwort, und auch gelistet war das „heiße Höschen“. Die
Schlümpfe schafften es “78 auf die Liste, wurden aber von der
„konspirativen Wohnung“ überholt. Das Wort 1979, „Holocaust“, war
eine direkte Folge des gleichnamigen Film-Vierteilers von Marvin J.
Chomsky, der die Republik erschüttert hatte. Die Wortschöpfung
„BRDDR“ auf Rang zwei nahm 1989 die Wiedervereinigung vorweg. Wer die
Siegerworte vergangener Jahre liest, von Politikverdrossenheit über
Sozialabbau, Sparpaket, Teuro, Hartz IV, Klimakatastrophe,
Finanzkrise bis zu Stresstest, der bekommt buchstäblich und
erdrückend klar jüngste Geschichte komprimiert im Telegrammstil
serviert. So gesehen ist es doch beruhigend, dass das „Wort des
Jahres“ noch nicht „Wetterfrosch“, X-Factor, „Raus aus den Schulden“
oder „katzenbergern“ heißt.

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