BERLINER MORGENPOST: Alles andere als ein Musterprozess – Leitartikel

Die Kachelmann-Soap geht weiter: Es mag hart sein
für die beiden Hauptakteure des Prozesses – die Klägerin (in den
Medien Sabine oder Simone genannt) und den Angeklagten – aber für
uns, für die Öffentlichkeit, ist dieser Prozess längst ein
Unterhaltungsstoff. Schon jetzt kennt jeder Leser, jeder
Fernsehzuschauer viele, viel zu viele Details aus Kachelmanns – nun
ja – eigenwilligem Liebesleben. Und mit jeder neuen
Kachelmann-Geliebten, die sich in den Medien präsentiert, überdreht
das Ganze weiter. Himmel, was für ein Leben hat der Mann geführt?
Gute-Nacht-Sammel-SMS mit Standard-Kosenamen für alle Frauen, mit
denen er gerade das Bett teilte. Immer auf Reisen, in jeder Stadt
eine andere, und alle haben nur eine Hoffnung: Ich bin die Einzige,
mich wird er erwählen. Liebe, Sex, Erwartung, Enttäuschung, dazu noch
Prominenz, Gefängnis, Gericht – das sind die Zutaten für saftige
Unterhaltung. Aber dies ist kein Film, keine Fiktion. Hier geht es um
einen schweren Vorwurf: Vergewaltigung. Hier geht es um echtes oder
behauptetes Leid. Das Gericht hat erst einmal nur eine Pflicht: Es
muss die Situation herunterkühlen, das überhitzte Dauerenthüllen der
vergangenen Wochen und Monate – hier noch eine Gespielin, dort noch
ein intimes Detail, egal ob es für den Prozess wichtig ist oder nicht
– beiseite schieben. Was wir ab heute im Gerichtsaal zu hören
bekommen, wird so privat sein wie all das zuvor. Aber es wird nur
noch um das gehen, was zur Aufklärung einer möglichen Straftat
beitragen kann. Darüber wird gerichtet, nicht über Kachelmanns irres
Liebesleben. Wir werden wohl auch die Anklägerin kennenlernen, die
dauergepixelte Radiomoderatorin, von der man bisher kaum ein Wort in
direkter Rede hörte. Während man von Kachelmann inzwischen eigentlich
alles weiß, weiß man von ihr so gut wie nichts. Schweizerin, elf
Jahre mit Kachelmann liiert, lebt in Schwetzingen, liebt
italienisches Essen. Mit ihr steht und fällt alles: Stimmt es, was
sie sagt? Lügt sie, übertreibt sie aus Rache, nach enttäuschter
Liebe? Was am Ende bei diesem Prozess herauskommt, ist offen. Aber
egal wie das Urteil lauten wird: Dies ist kein Musterprozess. Für
Frauen, die sexuelle Gewalt erleiden und über eine Anzeige
nachdenken, kann der Kachelmann-Prozess keine Entscheidungshilfe
sein. Zu erdrückend ist das Medieninteresse, zu groß die Schar von
Gutachtern. Eine Frau, die Anzeige wegen Vergewaltigung im engen
Freundes- und Bekanntenkreis stellt, muss einiges aushalten. Aber der
Kreis der Menschen, die sie be- und hinterfragen und begutachten,
bleibt überschaubar. In diesem Prozess dagegen drängen sich die
Sachverständigen. Sollte sich seine ehemalige Geliebte, wie
Kachelmann behauptet, tatsächlich nur rächen wollen, dann täte sie es
auf eine außerordentlich selbstzerstörerische Weise. Wir werden
sehen.

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